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Zwischen Disko und Moschee

Eine Bertelsmann Studie bescheinigte Muslimen in Deutschland jüngst eine zunehmende Hinwendung zu ihrer Religion. Beleg für eine Islamisierung? Nein, sagen zwei Rostocker Wissenschaftler. Was sich statistisch als einheitlicher Trend darstellt entpuppt sich bei näherem Hinsehen als vielschichtiger. Bei ihrer Studie über muslimische Jugendkulturen haben die Forscher genauer nachgefragt.

Der schwule Kurde, die flotte Bauchtanz – Queen in der türkischen Disko, der gläubige Jungunternehmer – die Lebensentwürfe junger Muslime in Deutschland sind vielfältiger als es Statistiken vermuten lassen. Mit mehr als 100 jungen Muslimen in ganz Deutschland haben die Rostocker Wissenschaftler gesprochen und gezielt nach biographischen Details gefragt. Die Lebensläufe sind weder stromlinienförmig noch homogen, wie Diplom Pädagogin Claudia Lübcke resümiert. Zum Beispiel die muslimische Rapperin mit Kopftuch:

"Subaia ist eine junge Frau die in der Großstadt aufgewachsen ist und aus ner Familie kommt wo sie stark beeinflusst wurde von der politischen Erziehung ihres palästinensichen Vaters, auch Gewalt erfahren hat in der Familie, ein eher negatives Verhältnis hatte zu ihrer Mutter, die keinen liebevollen Umgang mit ihren Kindern pflegte. Sie ist dann ausgebrochen, ist in Diskotheken gegangen, hatte mit Religion in dieser Zeit auch nichts zu tun, hat sich dann auch ab 18 schon professionell entschieden Rapperin zu werden und war in der Szene aktiv und das wurde dann nach dem 11. September noch mal verschärft weil sie sich nach dem 11. September entschieden hat, ein Kopftuch zu tragen."

Die Studie der Rostocker stützt wissenschaftliche Befunde, nach denen der Islam eine zentrale Rolle spielt im Leben jugendlicher Muslime. Gleichzeitig sind sie Deutsche – und fühlen sich auch so, wie Hans Jörg Wensierski, Professor für Erziehungswissenschaft und Jugendbildung betont:

"Was wir bei unseren Jugendlichen finden – ist, dass das Jugendliche sind, die von klein auf in Deutschland aufgewachsen sind und sich sehr stark identifizieren mit Deutschland, ihrer Heimat, das Land, das sie stark geprägt hat und trotzdem gleichwohl ihre islamische Identität zu betonen und beides miteinander zu vereinbaren suchen. Wenn man so will ist das natürlich auch ein Indikator für einen spezifisch europäischen Islam weil bestimmte Werthaltungen, bestimmte Vorstellungen, von Demokratie, von Staat, von Kultur, von Rechten als Frau in der Gesellschaft mit muslimischen Konnotationen verbunden wird."

Es geht also um die Verbindung zwischen Religion und der Gesellschaft, in der sie leben. Kennzeichnend ist bei jungen Muslimen dabei eine enge Bindung an ihre oft konservativen Familien und ihre Religion. Beides Konstanten im Leben nahezu aller jungen deutschen Muslime – egal welcher Jugendgruppe oder -szene sie sich sonst zugehörig fühlen. Allerdings – und das ist wissenschaftlich bislang nur wenig beleuchtet worden –  ist das Bekenntnis zum Islam nicht gleichzusetzen mit lebenslanger Frömmigkeit. Die Religion mit ihren Ge- und Verboten zur religiösen Lebensführung erscheint oder verschwindet in vielen Biographien  – abhängig von individuellen Wegen und Lebensphasen. Nicht selten stießen die Wissenschaftler auf extreme Wandlungen:  Zum Beispiel von einem kindlichen Glauben zu einer „expressiven Jugendphase“ wie das im Fachjargon heißt:

Diskotheken, Alkohol, bestimmte Jugendkulturen, die ne Weile aktuell waren, sexuelle partnerschaftliche Beziehungen – im Prinzip also das ganze Spektrum. Und haben sich dann aber nach ner bestimmten Zeit wieder rückorientiert.

Religion kann also in einer späteren Lebensphase wieder zum Leitmotiv der Lebensführung werden, betont Claudia Lübcke. Aber:

"Was jetzt nicht heißt dass sie die gleichen religiösen Vorstellungen wie ihre Eltern vertreten als Erwachsene sondern haben im Prinzip durch Einflüsse der Gemeinden oder Einflüsse im Studium sich wieder in diesen Richtungen orientiert, aber darüber hinaus sich trotzdem vom Islam der Elterngeneration sich ein Stück weit emanzipiert – da würde ich auch sagen, dass sich in den eigenen Religionsvorstellungen und Konzepten dieser Leute auch durch diese Jugendphase Veränderungen ergeben haben."

Wandlungen, die eine Statistik als Momentaufnahme nicht erfasst. Und auch der neu erschaffene Begriff „Pop-Islam“ das Phänomen nicht treffend beschreibt, weil er den Glauben zum Modeaccessoire degradiert. Die Lebensläufe der Jugendlichen erzählen eine andere Geschichte. Sie belegen, welche individuellen Schwierigkeiten und Spannungen sich ergeben, einen allumfassenden Glauben wie den Islam mit den Werten einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft in Einklang zu bringen.  

Mai 2009, in veränderter Fassung für Deutsche Welle